Der Taxifahrer vor
dem Bahnhofsgebäude bringt uns in die Innenstadt.
Wie beiläufig frage ich, wo denn das Stalindenkmal vor drei
Jahren gestanden habe. Genau vor dem Rathaus, an dem er uns absetzt. Er scheint
die Fragen zu kennen, die Nino für mich ins Georgische übersetzt. Wir laufen
auf der Stalin Ave. zum Museum. Die Gartenanlage mit Springbrunnen, Bäumchen,
Wegen, kleinen Brücken und Kandelabern ist das eigentliche Zentrum Goris.
Ich will aber noch nicht ins Museum. Ich will erst richtig
frühstücken, mich langsam annähern, die Situation erfassen.
Was will ich hier? Erst einmal etwas essen. In dem neuen, geschmackvollen,
flachen Gebäudekomplex hinter dem Museumsbau, strahlt mich ein modernes
Restaurant an. Dieses verspricht Neuzeit. Kein Stalinbild an der Wand. Wir
sitzen am Fenster, schauen auf den Parkplatz, die Reisebusse kommen und
entleeren ihre Gäste. Sie strömen über den Hintereingang in die Ausstellung.
Geländegängige Motorräder mit deutschen Nummernschildern fahren vor. Die Fahrer
offensichtlich auf Osteuropa-Kaukasus Querfeldein-Tour. Ein
Unimog-Reisewohnmobil aus der Schweiz hält vor dem Souvenirladen. Ich fühle
mich als Teil dieser Gesellschaft aus neugierigen Globetrottern, die Gori nicht
auslassen.
Als ich später im Hof des Museums die Reisegruppe vor dem
kleinen Stalindenkmal sehe, höre ich gespannt hin. Nino fragt mich, ob ich die
Sprache verstehe. Naja, nicht so richtig, sie sprechen Hebrew und kommen aus
Israel. Mir kommt der kühne Gedanke, ob es sich vielleicht um Nostalgiker ihres
Landes handeln könnte? Auf der Suche nach den verlorenen sozialistischen
Idealen, in der Kibbutz-Bewegung aufgewachsen? Doch bei genauerem Hinschauen –
nicht ganz ernst gemeint – habe ich nicht den Eindruck, dass hier Kibbutzniks
zu Besuch sind.
Nach dem Frühstück und tief schürfenden Diskussionen mit
Nino muss ich mich nun doch aufraffen. Ich merke, wie schwer ich mich tue, den Weg
ins Museum zu gehen. Als Stalin 1953 starb, war ich 13 Jahre alt. Eltern,
Verwandte in der SBZ, Lehrer und die Erwachsenen um mich herum meinten damals,
eine neue, bessere Zeit würde beginnen. Nun endlich könnten auch die deutschen
Kriegsgefangenen zurückgeholt werden. Die Stalin-Allee in Berlin wurde später
in Karl-Marx-Allee umbenannt. Über die massenmörderischen Verbrechen Stalins
sprach man nur im Vergleich mit Hitlers Verbrechen – wenn überhaupt. Dass
Berlin 1945 von der Sowjet-Armee unter Stalin befreit wurde, war – so
ausgesprochen – ein Sakrileg. Das alles schießt mir durch den Kopf. Was treibe ich hier?
Das berauschende Gefühl, die Spur eines der größten Massenmörder
(neben den anderen) aufgenommen zu haben, kann es nicht sein. Ich bin kein
Zeitzeuge. Mein Vater (Jahrgang 1910) wäre einer gewesen.
Irgendwie (hier passt das Füllwort) unbehaglich fühle ich
mich schon. Das Schild am Eingang zur Tourist Information bringt mich zurück
ins Heute. Verwundert lese ich das deutsche Engagement der GIZ beim Aufbau der
Ladenzeile (die sich wohltuend von dem architektonischen Schwulst des
Noch-Präsidenten unterscheidet). Wir gehen hinein. Drei hübsche, junge Frauen
lächeln uns an. Ein kühler, praktisch eingerichteter Raum mit Ladentheke und
Regalen. Kein Stalin an der Wand. Ich meine etwas zu meinem Hiersein sagen zu
müssen. Journalist: „Wo wird denn die vor drei Jahren abgetragene Statue
Stalins im Moment,
bis zur Wiederaufstellung,
gelagert?“ Eine pfiffige Antwort,
schmunzelnd: „Gut verschlossen, in einem Tresor!“ Ich lache und nehme den
Stadtplan Goris und frage, wo das Denkmal demnächst aufgestellt werden soll?
Die Pfiffige zeigt mir den Standort, direkt in der Parkanlage, vor dem Museum.
Nicht vor dem Rathaus, wo er schon mal stand. Diese Antwort kommt so
selbstverständlich, dass ich mich verblüfft verabschiede.
Nächste Tür: Andenken und Souvenirs. Eine Überraschung. Ein Laden, so sortiert
wie in jeder Stadt.
Von allem etwas. Kunsthandwerk, Kitsch, Postkarten,
Typisches aus der Region, Kappen und Schmuck. Und wo ist Stalin? Da muss ich
schon mal genau hinschauen. Stalin auf Kaffeetassen, Stalin neben Ché auf dem
Tshirt. Keine Gipsbüsten, keine Wandteppiche, keine Medaillons, keine Ikone für
den Hausaltar. Soll ich nun enttäuscht sein? Ich hatte vorher mit Nino
besprochen, dass ich mir ein Stalin-Souvenir kaufen werde, damit ich danach im
Laden auch fotografieren darf. Jetzt fotografiere ich mit Zustimmung der
Verkäuferin und bin heilfroh, dass ich mich nicht mit Stalin im Gepäck
abschleppen muss.
Nun aber – jetzt auf zur Kasse im Museum. Eintritt 15 Lari
(7 Euro) pro Person. Der bombastische Treppenaufgang zur Heldenverehrung.
Ungebrochen werden die Stationen von 1879 bis 1953 in Bildern und Objekten
vorgeführt. Von der Geburtsurkunde Ioseb Jugashvili bis zur Totenmaske Joseph
Stalin, alles schön chronologisch, die
Räume in sanftes Licht getaucht.
Das Museum war schon zu Stalins Lebzeiten geplant und
begonnen, konzipiert als Devotionaliensammlung der sowjetischen Revolution.
Nach dem Tod des Feldherrn im Großen Vaterländischen Krieg (1941-1945) wurden
Titel und Konzept umgeschrieben.
Kein Gruseln, keine Wut, eher Gleichmut. Hier lerne ich
einen sympathischen, hübschen, außergewöhnlich intelligenten Georgier kennen,
der die Welt verändert hat. Mit diesem Gefühl verlasse ich die Orgie der
Heldenverehrung. Später erst weiß ich, was mir hier fehlt.